Arthur Nebes Ermittlungen im Fall Georg Elser

Erinnerungen an Hitlers Reichskriminaldirektor

Von Hans Bernd Gisevius


Hans Bernd Gisevius
Dr. Hans Bernd Gisevius war bereits 1938 in erste Attentats-pläne auf Hitler eingeweiht. Er stand in direktem Kontakt zu Goerdeler, Oster, Beck, Canaris, Nebe, von Dohnanyi und vielen anderen Mitgliedern der Opposition gegen Hitler.

Beim Bürgerbräuattentat erlangte er auf Grund seiner Freundschaft zu Arthur Nebe, dem Chef der deutschen Kriminalpolizei, Einblicke aus erster Hand in die Ermittlungen.

Das Scheitern des 20. Juli 1944 erlebte Gisevius im Bendlerblock mit. Er tauchte anschließend unter und konnte im Januar 1945 in die Schweiz flüchten.

1946 erschienen seine Erinnerungen "Bis zum bittern Ende", in denen er u.a. auch über die Alleintäter-schaft Elsers berichtete.

1966 erschien sein Buch "Wo ist Nebe?" mit Erinnerungen an Arthur Nebe, der im März 1945 wegen seiner Verwicklungen in den 20. Juli hingerichtet wurde. Nebes erste Sorge war, seine Schlüsselstellung in der Untersuchung so auszubauen, dass er nicht mehr ausmanövriert werden konnte. Er bildete daher zwei Untergruppen. Die für den Tatort steuerte er selbst; Spurensicherung und, falls nötig und möglich, Spurenverwischung schienen ihm im Augenblick das Wichtigste. Aus dem Stapel anonymer oder gutgläubiger Anzeigen mutmaßliche Täter herauszufinden, blieb Aufgabe der zweiten Gruppe, deren Mitglieder Kollege Müller stellen sollte. Letztlich blieb diese darauf angewiesen, was die erste Gruppe unter Nebe an brauchbaren Spuren herausrückte.

[Kripo-Chef Arthur Nebe: Tatortgruppe, Gestapo-Chef Heinrich Müller: Tätergruppe]

Die Rechnung ging auf, weit besser sogar, als der Kripochef zu hoffen gewagt hätte. Er hatte mit seinen Beamten noch keine Stunde im Schutt der Bierhalle herumgestochert, da waren die ersten Bestandteile der Höllenmaschine zur Hand. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Diese verbogenen Messingteile eines Uhrwerkes, dazu die Pulverspuren am Explosionsherd ließen keinen Zweifel: Das war kein brisantes Material aus militärischen Arsenalen, das war das primitive, wenn auch massive Werk von Bastlern, die sich eines für Steinbruchsprengungen gebräuchlichen Sprengstoffes bedient hatten.

Besprechung bei Heinrich Himmler

Heinrich Himmler in einer Besprechung zum Fall Elser. Von links: Franz Josef Huber (Leiter der Gestapo Wien, Leiter der Täterkommission), Arthur Nebe (Chef der Kripo, Leiter der Sonderkommission Bürgerbräuattentat), Heinrich Himmler (Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei), Reinhard Heydrich (Chef des RSHA), Heinrich Müller (Chef der Gestapo).
Quelle: Ullstein Bilderdienst

Damit war der von Gestapo-Müller gestellten Tätergruppe der Weg in zweifacher Weise verlegt. Der oder die Bombenleger konnten nur auf Grund einer Rekonstruktion der Höllen-Maschine ermittelt werden. Die dazu notwendige Feststellung ihrer einzelnen Fabrikationsteile sowie der Fahndung, wo diese gekauft und zusammengesetzt sein mochten, war einwandfrei die Aufgabe von Gruppe 1. Überdies konnten die Rivalen keine politischen Zirkel oder Einzelpersonen verdächtigen, solange nicht deren Zusammenarbeit mit den Herstellern der Bombe klar erwiesen war. Dazu musste man diese erst einmal gefunden haben.

[Hitler am Tatort]

Am 11. November erschien Hitler persönlich am Tatort. Jede Einzelheit ließ er sich von Nebe erklären. Ihm imponierte, mit welcher Exaktheit die Schuttmassen gesiebt und die gefundenen Einzelteilchen auf einem Plan des Bürgerbräusaales eingezeichnet waren, um aus ihrer Entfernung vom Explosionsherd und ihrer Lädierung auf die Sprengwirkung zu schließen. An einer Papptafel waren mit Zwirnsfäden die deformierten Teile des Uhrwerks befestigt.

Mit gespanntem Interesse sah sich Hitler die Säule an, in die das Kunstwerk eingebaut worden war; genau unter ihr hatte, wie üblich, das Rednerpult gestanden. Der Pfeiler war geborsten, die Stahlträger, die das Mauerwerk hielten, waren verbogen. Nebe beobachtete seinen Besucher scharf: "An dieser Stelle gingen die meisten Trümmer herunter; wer hier stand, wäre mit Sicherheit tödlich verletzt worden."

Nichts ließ aus Hitlers Verhalten auf eine abgekartete Sache schließen. Im Gegenteil, er war bewegt und fast noch mehr erschrocken. Aber während die Umgebung sich hütete, den drohenden Trägern allzu nahe zu kommen, trat er direkt unter sie. Ganz genau wollte er sehen, wo die Bombe einmontiert gewesen war.

Seither war Nebe bei seiner Diagnose geblieben, die so vielen nicht in ihr Bild vom hysterischen Teppichbeißer passte: "Dieser Mann ist nicht feige; er will nur nicht ermordet werden. Er mag sich wie ein Raubtier ducken; aber täuscht euch nicht, der hat keine Angst, der springt seine Feinde an."

[Indizien am Tatort führen zu Elser]

Erst als man den unbekannten Bombenleger an Hand von Indizien in seinen Umrissen genauestens ausgemacht hatte, fand man ihn - nebenan im Gestapokeller. Die Kriminalisten spielten mit sich selber Räuber und Gendarm, Gruppe 1 gegen Gruppe 2.

Man hatte den Verkäufer des Uhrwerks feststellen können. Von ihm war der Käufer als ein schwäbelnder junger Mann geschildert worden. Ein schwäbischer Handwerker von etwa dreißig Jahren hatte in München die Korkplatten erstanden, mit deren Hilfe die Bombe mit dem laut tickenden Zeitzünder schalldicht eingebaut worden war. Ein jüngerer Fremdling mit schwäbischem Dialekt hatte monatelang als Stammgast im Bürgerbräu gesessen und ein Gspusi mit einer bei der Explosion umgekommenen Kellnerin gehabt. Diese hatte sich sogar für ihn verbürgt, als er vom Nachtwächter oben auf der Galerie gefunden worden war. Angeblich hatte er dort ungesehen eine Fußwunde verbinden wollen, wobei er, wie er sagte, eingeschlossen worden sei. Alle Personenbeschreibungen stimmten überein.

Diskret begannen die Mitglieder der Tatortgruppe ihre Rivalen von der Tätergruppe auszufragen, ob sich unter den Hunderten von vorsorglich Verhafteten, Angestellten des Bürgerbräus, Kellnern und Bauarbeitern, ein junger Mann befinde der aus Schwaben stamme. Bald hatten sie ihn. Es war ein gewisser Georg Elser, sechsunddreißigjährig, Kunsttischler vor Beruf.

Dieser war am 8. November etwa um die Zeit der Explosion beim Versuch, in der Nähe von Konstanz über die grüne Grenze in die Schweiz zu fliehen, verhaftet worden. Bei seiner Festnahme hatte er unter dem Rockaufschlag ein Abzeichen des ehemaligen kommunistischen Roten Frontkämpferbundes getragen; er war im Besitz von Geheimmaterial aus einer Fliegerschule gewesen; in seiner Rocktasche hatte man eine Ansichtskarte des Bürgerbräus gefunden, auf der die eine Säule rot angekreuzt gewesen war.

So hatte der erste Polizeifunkspruch gelautet. Die Kriminalisten fanden, das sei massiver und dümmer, als es selbst bei der Gestapo erlaubt war. Mehr routinemäßig hatte man ihn daher nach München kommen lassen und vernommen. Mit seiner schmächtigen Figur, die welligen dunkelblonden Haare nach hinten aus dem hageren Gesicht gekämmt, kluger, scharfer Blick, reinnervige Handwerkerhände, wirkte er keinesfalls wie ein Fanatiker. Mitglieder von kommunistischen Terroristengruppen sahen anders aus.

[Elser passt nicht in das Schema]

Da Elser im Augenblick der Explosion in Konstanz war, erschien sein Alibi glaubwürdig. Angeblich hatte er sich vom Wehrdienst drücken wollen. Im übrigen war sein Kopf ohnehin verwirkt. Wehrdienstverweigerung, versuchter Verrat militärischer Geheimnisse im Ausland, illegaler Grenzübergang - damit schien der Fall erledigt. Der Fall sollte als Beiprodukt der Fahndung an die Justiz abgegeben werden.

Das war um so begreiflicher, als Elser überhaupt nicht in das Schema hineinpasste, das inzwischen von der Reichskanzlei als Richtlinie für die Untersuchung dekretiert worden war. Die Bombe mochte noch so primitiv gewesen sein, das schloss nicht aus, dass die Täter vom Ausland gesteuert und finanziert worden waren. Nebe selbst hatte auf Hitlers Frage, wie viel Zeit für den Einbau der Bombe benötigt worden sei (es handelte sich um ein Meisterwerk der Kunsttischlerei), rund zweihundert Arbeitsstunden geschätzt.

Solch eine intensive Vorbereitung konnte Hitler zufolge nur durch eine einflussreiche Gruppe überwacht worden sein. Wer kam dafür in Frage? Gemeinsam mit Goebbels-Himmler-Heydrich hatte er sich für die Gesinnungsfreunde des emigrierten Otto Strasser entschieden. In dieses Konzept passte die Finanzierung der Aktion durch den englischen Secret Service.

Nebe verhehlte Hitler gegenüber seine Skepsis nicht. Ein Geheimdienst, dem alle nur denkbaren Mittel zur Verfügung standen, sollte mit einer so primitiven Bombe gearbeitet haben? [...]

[Elsers Geständnis]

Als aber bei der Nachfrage, ob sich unter den Häftlingen der Tätergruppe ein junger Mann mit stark schwäbischem Dialekt befinde, wieder der Name Elser auftauchte, wurde er hellhörig. Sofort ordnete er die Vorführung an.

Ausgerechnet diese Neugierde alarmierte die Rivalen. Plötzlich war der Vogel ausgeflogen. Auf Befehl Heydrichs wurde die Beute von den Rivalen zum Zwecke eigener Vernehmungen zurückgehalten. Binnen vierundzwanzig Stunden hatten die Techniker der Folter ein volles Geständnis erpresst.

Erst am kommenden Abend erfuhr Nebe Einzelheiten. Vorweg aber musste er sich aufrichtige Glückwünsche seines diabolisch grinsenden Chefs anhören, weil er der Gestapo den Täter so schnell zugespielt hatte. Zugleich erhielt er Instruktionen, wie der Fall nunmehr zu präparieren sei.

[Den Fall präparieren]

Das war im Vorzimmer Hitlers, zu dem er plötzlich nach Berlin beordert war. Der Führer höchstpersönlich wollte bestimmen, wie die Überprüfung des Geständnisses, die bemerkenswerterweise durch Nebe vorgenommen werden sollte, zu koordinieren sei. Nebe traute seinen Ohren nicht. Koordinieren? Womit?

Arthur Nebe
Arthur Nebe (* 13. November 1894, † 21. März 1945) war Chef des Reichskriminal-polizeiamtes, mit anderen Worten Chef der deutschen Kripo.
  • 1931 wurde Nebe Mitglied der Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und der Schutzstaffel (SS).
  • Nach der Machtergreifung Hitlers kam er zur Gestapo und wurde er zum Chef der Abteilung V (Kripo) des Reichssicherheitshauptamts.
  • 1939 führte Nebe, der sich schon 1938 insgeheim dem Widerstand angeschlossen hatte, die Ermittlungen gegen Georg Elser.
  • Während des Zweiten Weltkriegs musste Nebe im Rang eines SS-Brigadeführers bis Oktober 1941 als Kommandant der SS-Einsatzgruppe B an die Ostfront. Seine Freunde im Widerstand hatten ihm dazu geraten, diesem Befehl Himmlers zu folgen, damit Nebe seine für die Opposition gegen Hitler wichtige Schlüsselposition behalten konnte. Die ihm unterstellten SS-Truppen verübten zahlreiche Massaker an der sowjetischen Zivilbevölkerung. Nebe konnte anderseits Tausenden von Zivilisten das Leben retten, indem er u.a. überhöhte Zahlen von Exekutionen meldete.
  • Am 20. Juli 1944 stellte Nebe Polizeieinheiten bereit, die während des Umsturzes wichtige Reichsminister festnehmen sollten. Nach dem Attentat konnte er sich zunächst verstecken.
  • Im Frühjahr 1945 wurde er gefasst, durch den Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und am 3.3.1945 hingerichtet.
Endlich fand er heraus, was vor sich gegangen war, als "die da drüben ein Ding drehten". Es handelte sich um die Venloer Affäre, die sich soeben aus einem Spiel des Nachrichtendienstes in ein Kriminalstück verwandelte. [...]

Er griff sich seinen jüngsten Kriminalfall heraus und exemplifizierte, was ihm so wichtig erschien:

"Nimm diesen Elser - das ist ein Kerl! Das ist der einzige unter uns, der es erfasst hatte und demgemäß handelte. Das ist ein Held unserer Zeit - und deswegen werden die Nazis, nein, gerade deine feinen Leute alles tun, um jede Erinnerung an ihn auszulöschen."

Und dann schilderte mir Nebe seinen Kampf mit Hitler und den Himmler-Heydrichs um die Abfassung seines kriminalistischen Schlussberichtes.

In der Tat war er am Abend des 14. November 1939, als er Hals über Kopf in die Reichskanzlei befohlen wurde, noch voller Misstrauen gegen die Figur des Attentäters gewesen. Er selbst hatte ihn mit seinen minuziösen Ermittlungen über die Herkunft der Bombe eingekreist. Aber er konnte und wollte nicht ausschließen, dass der schwäbische Kunsttischler mit einer Gruppe Gleichgesinnter zusammengearbeitet hatte.

Allzu umsichtig war die Gelegenheit ausgespäht, allzu kunstfertig oben auf der Galerie des Bürgerbräus eine kaum sichtbare Platte mit Schnappschloss in die Holzverkleidung der Säule eingebaut worden. Allzu viele Wochen musste es gedauert haben, bis die Höhlung von achtzig mal achtzig Zentimetern fertiggestellt war. Und die Präparierung des Uhrwerks hatte sich als besondere Meisterleistung herausgestellt, so präzise war der Zünder auf die übliche Redezeit Hitlers, vier Tage nach Einbau, eingestellt worden.

Soviel Intelligenz, soviel handwerkliches Geschick, soviel politischer Fanatismus erschienen Nebe unwahrscheinlich. Er wollte diesen Superbombenleger, den Heydrich am liebsten sofort liquidiert hätte, zunächst einmal selber sehen.

[Hitlers sechster Sinn]

Das passte in Hitlers Konzept, ins menschliche wie ins politische, weil ihm diese Geschichte - freilich aus ganz anderen Gründen - gleichfalls nicht recht geheuer war. Nur sein sechster Sinn konnte ihn gerettet haben. Für den 9. November vormittags hatte er eine dringende Besprechung in Berlin angesetzt; an sich wollte er am Morgen dieses Tages zurückfliegen.

Wegen des unsicheren Wetters hatte er sich am Nachmittag des 8. für den Sonderzug entschieden. Den Beginn seiner Rede hatte er ein wenig vorverlegt. Aber während er sprach, war es ihm gewesen, als rufe ihm eine innere Stimme zu: "Raus, raus." Früher als geplant, hatte er abgebrochen. Dieser seltsamen Häufung von "Zufällen" verdankte er seine Rettung.

So etwas ließ sich nicht publizieren. Auch passte die Version, Otto Strasser und der Secret Service hätten das Attentat angezettelt, in sein Konzept. Oft genug hatte er im engeren Kreis geäußert, wenn "irgendein Idiot" ihn umbringen wolle, könne er es nicht verhindern. Aber dafür war dieses Attentat viel zu glänzend vorbereitet worden, das Uhrwerk hatte viel zu gut gezündet, als dass er jetzt einem unbedarften Einzelgänger konzedieren wollte, um den Zeitraum von knapp zwanzig Minuten beinahe "Vorsehung" gespielt zu haben. [...]

Nebe war sich keineswegs sicher, ob die geplante Koordinierung der beiden gekidnappten englischen Offiziere mit Elser funktionieren würde. Spätestens bei einem Prozess würde die Version aufplatzen. Was noch wichtiger war: Trotz der ihnen ausgesprochenen Anerkennung für die Ergreifung Elsers sah er die Suche nach dessen etwaigen Hintermännern keineswegs als erledigt an. Ungeachtet des Hitler-Stalin-Paktes konnte eine kommunistische Gruppe auf eigene Faust gehandelt haben.

[Wirklich keine Hintermänner?]

Himmler war ungehalten. Heydrichs stechende Blicke sprachen Bände. Aber Hitler pflichtete insofern bei, als er vor Abgabe einer öffentlichen Erklärung selber genau wissen wollte, was sich abgespielt hatte. Eine Woche erhielt der Kripochef bewilligt, in der Elser ihm nicht entrissen werden durfte.

Das Ergebnis wurde, dem Großeinsatz entsprechend, zu einer Art kriminalistischem Schulfall. Der schlüssige Beweis für den Hergang eines immerhin recht komplizierten Verbrechens konnte, völlig unabhängig vom Geständnis des Täters, lückenlos erbracht werden.

Sogar für das am meisten bedrängende Rätsel, wie Elser unter so auffallenden, um nicht zu sagen unglaubwürdigen Umständen verhaftet werden konnte, ergab sich eine einleuchtende Erklärung. Der Flüchtling hatte sich in der Schweiz als politischer Emigrant ausweisen wollen; das kommunistische Abzeichen, das Geheimmaterial aus der Fliegerschule, vor allem die Postkarte mit der angekreuzten Säule, das alles wollte er sofort vorzeigen, damit es ihm nach dem gelungenen Attentat als Legitimation diene.

Elser hatte geplant, schon zwei Tage früher über die grüne Grenze zu gehen. Er war bereits in Konstanz gewesen, als ihn eine innere Unruhe packte. Er kehrte nochmals nach München zurück, um den Kopf an die Säule zu halten - es tickte noch.

Aber nun konnte er erst im Dunkel des 8. November den Grenzübergang wagen. Die Stelle, die er als früherer Einwohner von Konstanz genau kannte, war gut gewählt. Er hatte bereits das Schwierigste hinter sich, als er aus einer kleinen Bude eine Radiosendung hörte. Die Zöllner lauschten der Führerrede. Da konnte der Kunsttischler nicht widerstehen. Jetzt musste es bald soweit sein. Der aus dem Dunkeln nahende Zollbeamte ergriff nach seiner Schilderung einen Geistesabwesenden.

[Übergabe an die Gestapo]

Hitler las den Bericht gern. Er zog seine eigenen Schlüsse: Wenn Elser wirklich der Alleintäter gewesen war, konnte man ihn unbesorgt dem Secret Service unterschieben: Der hatte den Attentäter angestiftet. Elser in diesem Sinne zu präparieren, verfügte allerdings die Gestapo über verlässlichere Methoden als die bourgeoise Kriminalpolizei.

Am 20. November war es soweit. Nebe musste die Akten dem Kollegen Müller aushändigen. Dieser kostete den Triumph aus. Der unbequeme Reichskriminaldirektor musste schriftlich versichern, keine Beweisstücke oder Protokolle zurückbehalten zu haben.

[Offizielle Berichterstattung]

Am 21. November wurden die koordinierten Fälle Elser und Venlo publiziert. Nicht einmal in der amtlichen Verlautbarung wurde ein tatsächlicher Zusammenhang behauptet; er ergab sich aus der Art der Veröffentlichung, gleichmäßig Fall neben Fall. Das Weitere zu kombinieren war Sache der Kommentatoren.

Aber typisch: Nun war Hitler der erste, der auf seine eigene Version hereinfiel. Er konnte der Autosuggestion nicht widerstehen. Wie im Fall Fritsch bestellte er sich selbst zum Kriminaloberstkommissar. Er ließ sich Elser persönlich vorführen. Damit nicht genug, verhörte er noch stundenlang dessen frühere Braut. Jetzt wollte er sich aus eigenem Augenschein über die Hintermänner vergewissern - und die Motive.

[KZ-Haft und Liquidierung]

Am Ende stand eine der rätselhaftesten Anordnungen, die er je gegeben hat. Man weiß nicht recht, ob ihn, der einen ausgeprägten Sinn für technische Neuerungen hatte, an Elser dessen Erfindung eines völlig neuartigen Zeitzünders - nach Meinung der Experten eine imponierende Mischung von Primitivität, Einfallsreichtum und Kunstfertigkeit - faszinierte; oder ob er, wie Nebe annahm, aus okkulten Gründen glaubte, dass geheimnisvolle Bande zwischen ihm und "seinem" Attentäter bestanden, die beider Ende miteinander verflocht.

Jedenfalls erhielt Elser im KZ Dachau, wohin man ihn verbrachte, Privilegien zugebilligt wie kein anderer prominenter Häftling. Scharf bewacht, bewohnte er zwei Zimmer, von denen ihm das eine als Kunsttischlerwerkstatt hergerichtet worden war. Dort durfte er weiter basteln. Sogar seine Zither händigte man ihm aus, zu der er traurige Weisen sang.

Als man ihn dann auf Weisung aus Berlin in den letzten Tagen des Krieges liquidierte, musste in einem vorgeschriebenen Text seine angeblich tödliche Verwundung anlässlich eines Bombenangriffes gemeldet werden. Es war, als habe man ihm noch durch seine unauffällige Beseitigung die amtliche Beglaubigung seiner Tat verwehren wollen, die in ihrer durchdachten Konzeption und zähen Durchführung ihresgleichen im Dritten Reich sucht. [...]

[Nebes Wiedersehen mit Elser]

Nebe hatte Elser 1941 noch einmal getroffen. Plötzlich war auf dem Hofe des Gestapogebäudes ein Häftling so schnell auf ihn zugelaufen, dass die Wächter nicht Schritt halten konnten. Er traute seinen Augen nicht: Es war der Münchner Attentäter, von dem er nie mehr etwas gehört hatte und den er nicht mehr unter den Lebenden wähnte.

Mit Tränen in den Augen hatte Nebe mir damals von der gespenstischen Begegnung mit einer gepeinigten Kreatur erzählt. Elser war nur eine Ruine seiner selbst gewesen, weil man ihn mit stark gesalzenen Heringen, Hitze und Flüssigkeitsentzug zu erpressen versucht hatte. Sie ließen nicht locker: Er sollte irgendeine, sei es noch so vage Verbindung zu Otto Strasser gestehen.

Der Kunsttischler war hart geblieben. Fast wie ein treuherziges Kind, ein Mensch jener Wesensart, die man zuweilen unter Sektierern findet, hatte er Nebe von seiner Pein erzählt, nicht um Milde wimmernd, nicht einmal klagend; es war eher wie ein glückharter Aufschrei, nochmals dem einzigen Menschen begegnet zu sein, der seit seiner Verhaftung menschlich auf ihn eingegangen war.

Noch heute höre ich, wie Nebe, als er kurz danach beiläufig darüber sprach, aufstöhnte. Da er sich nie bewusst war, welche menschliche Güte er gegenüber jenen vom Schicksal Geschlagenen ausstrahlte, die man allzu schnell in die Kategorie der Verbrecher verweist, litt er um so mehr, wenn er bei solchen unvermuteten Anlässen an die befohlene Ausmerzung aller Menschlichkeit in seinem Beruf erinnert wurde. Er fasste es geradezu als eine ihm ganz persönlich auferlegte Folter auf, nicht einmal dort, wo die Todgeweihten fest in den Klauen ihrer Henker blieben, von Mensch zu Mensch reden zu dürfen - fast müsste ich sagen (aber er dramatisierte nicht und sprach über solche Dinge völlig unpathetisch) als Bruder zum Bruder.

Stets war es diese geheimnisvolle Bruderschaft mit den Verfolgten, die mich am meisten an ihm beeindruckte, besonders wenn sie bei der Erwähnung solcher "nebensächlicher" Erlebnisse durchbrach. Die Empörung war echt gewesen, mit der er mir seinerzeit nicht allein über Elsers gegenwärtiges Schicksal berichtet, sondern zugleich sein künftiges vorhergesagt hatte: das eines ausgestoßenen Einzelgängers, an dem sich selbst noch die Historiker verlegen vorbeidrücken würden, weil er sich in keines der gängigen Schemata von denen, die "dafür", "dagegen" oder aber vollständig indifferent waren, einfügen ließ. [...]

[Die schweigen ihn tot]

Das Erlebnis mit Elser packte ihn aufs neue. Er bohrte weiter: "Und du wirst sehen, den Mann machen sie noch hinterher fertig; den schweigen sie tot."

In seiner Jugend habe Elser einmal in der Kapelle des Roten Frontkämpferbundes mitgespielt; er habe Freude daran gehabt. Noch vor 1933 sei er ausgetreten. Letztlich sei er weder Kommunist noch Marxist noch Anarchist, politisch sei er überhaupt nichts gewesen, was man genau hätte definieren können.

"Aber weißt du, was mit ihm wirklich los war? Dieser Mann aus dem Volke liebte das einfache Volk; er legte mir leidenschaftlich und in simplen Sätzen dar, Krieg bedeute für die Massen aller Länder Hunger, Elend und millionenfachen Tod. Kein 'Pazifist' im üblichen Sinne, dachte er ganz primitiv: Hitler ist der Krieg, und wenn dieser Mann weg ist, dann gibt es Frieden..."

Nebes Augen funkelten. Er wusste, das hatte gesessen. Er erinnerte sich viel zu gut, wie betroffen ich gewesen war, als er mir mit fast denselben Worten Weihnachten 1939 erstmals von dem Attentäter erzählt hatte.

Damals, an der Schwelle zum "richtigen" Krieg, hatten wir ein langes, bewegendes Gespräch gehabt, nicht nur über Nebes These von der geheimen Kriegssehnsucht der "Patrioten", sondern über die Frage (ich gestehe, für mich war es eine Frage), ob das pazifistische Motiv, das er Elser zubilligte, tatsächlich ausschlaggebend sein konnte. Antinazi, Antifaschist, kommunistischer Sektierer, das alles schien mir einleuchtend. Konnte man jemandem, der den Ersten Weltkrieg nur als Kind erlebt hatte, unterstellen, dass er ganz einfach "gegen den Krieg" gewesen war?

Nebes seltsame Bestimmtheit, die eigentlich nur dann bei ihm zu beobachten war, wenn ein Großerlebnis aus ihm sprach, hatte mich Ende 1939 tief beeindruckt. Ich bin sicher, auch er entsann sich jetzt jenes Gesprächs, auch er empfand es als makaber, wie dieselbe Thematik nach viereinhalb Jahren nunmehr angesichts des verlorenen Krieges und unter was für bedrängenden persönlichen Umständen erneut auf uns zukam.

"Jawohl, der Mann wollte ganz einfach nicht den Krieg... Gerade deswegen werden die feinen Leute nichts von ihm wissen wollen, auch nicht hinterher... Sie haben übrigens ganz recht damit; sie handeln völlig instinktsicher. Der passt nicht zu ihnen."

Quelle: Hans Bernd Gisevius, Wo ist Nebe? Erinnerungen an Hitlers Reichskriminaldirektor, Zürich 1966


Dr. Hans Bernd Gisevius (* 14. Juli 1904 in Arnsberg, † 23. Februar 1974 in Müllheim) war ein ehemaliger Deutschnationaler, Polizeibeamter, Regierungsrat und gehörte seit Mitte der 1930er Jahre zur Opposition gegen Hitler.
  • Nach dem Jurastudium trat er 1933 den Dienst bei der Politischen Polizei in Preußen an. Er erlebte den Aufbau der Gestapo und die Ermordung von SA-Angehörigen und vieler Unschuldiger während des sogenannten Röhm-Putsches am 30. Juni 1934 unmittelbar mit.
  • Er leitete 1934 vorübergehend die Polizeiabteilung im Reichsinnenministerium, schied als Regierungsrat aus dem Staatsdienst aus und war einige Jahre in der Privatwirtschaft tätig.
  • Gisevius war bereits 1938 in erste Attentatspläne militärischer Kreise eingeweiht. Er stand in direktem Kontakt zu Goerdeler, Oster, Beck, Canaris, Nebe und vielen anderen Mitgliedern der Opposition gegen Hitler.
  • 1939 wurde er nach Kriegsausbruch zum Amt Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht unter Admiral Wilhelm Canaris eingezogen.
  • Nach dem Bürgerbräuattentat erlangte er auf Grund seiner Freundschaft zu Arthur Nebe, dem Chef der deutschen Kriminalpolizei, Einblicke aus erster Hand in die Ermittlungen. Daher wusste er schon damals, dass Georg Elser ein Alleintäter war und Gisevius war auch einer der ersten, der dieses Wissen nach dem Krieg publizierte.
  • 1940 bis 1944 war er Abwehrbeauftragter beim deutschen Generalkonsulat in Zürich und unterhielt enge Verbindung zwischen dem deutschen Widerstand und Allan Welch Dulles, dem Gesandten des amerikanischen OSS (Office of Strategic Services, ab 1947 CIA) in Bern.
  • Das Scheitern des 20. Juli 1944 erlebte Gisevius im Bendlerblock mit, wo er sich um die Kommunikation mit dem Berliner Polizeipräsidenten Graf von Helldorf und mit Kripochef Arthur Nebe kümmerte. Wäre der Staatsstreich geglückt, wäre Gisevius möglicherweise Minister im Kanzleramt unter Goerdeler oder Staatssekretär des neuen Staatsoberhaupts Beck geworden. - Er konnte nach dem 20. Juli in Deutschland untertauchen, zumal der OSS gezielt eine Meldung verbreitet hatte, er seit schon kurz nach dem Attentat in die Schweiz entkommen, wo ihn die Gestapo seither fieberhaft suchte. Im Januar 1945 konnte Gisevius mit falschen Papieren, die ihm der OSS nach Deutschland geschmuggelt hatte, in die Schweiz flüchten. - Seine Schwester Annelise Gisevius wurde als Sippenhäftling interniert und wurde im Mai 1945 in Südtirol befreit.
  • 1946 erschienen seine Erinnerungen "Bis zum bittern Ende", in denen er u.a. auch über die Alleintäterschaft Elsers berichtete. Das Buch musste zunächst in der Schweiz erscheinen, da die Alliierten im besetzten Deutschland jegliche Veröffentlichungen über die Existenz einer Opposition gegen Hitler verboten hatten. Es wurde dennoch ein Bestseller und erlebte später im In- und Ausland zahlreiche, teilweise überarbeitete Auflagen.
  • 1947 sagte er als Zeuge vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg aus.
  • 1966 erschien sein Buch "Wo ist Nebe?" mit Erinnerungen an seinen Freund Arthur Nebe.

Hans Bernd Gisevius: Der Zitherspieler
Georg Elser und der Rote Frontkämpferbund
Ulrich Renz: In der Sache Gisevius
Die Befreiung der Sonder- und Sippenhäftlinge in Südtirols
Stationen der Georg-Elser-Forschung
Friedrich Karl von Eberstein
Franz-Josef Huber
Albrecht Böhme
Walter Schellenberg

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