Hitlers Programm am verhängnisvollen 8. November 1939

Mehr als 20 Jahre lang hat Harald Sandner aus Coburg akribisch zusammengetragen, an welchen Tagen Adolf Hitler wo war und was er da getan hat. Das Ergebnis hat er in vier großformatigen, dicken Bänden zusammengefasst. Das voluminöse Werk erschien dann 2015 unter dem Titel "Hitler - Das Itinerar" im Berliner Story Verlag und trägt den Untertitel: "Aufenthaltsorte und Reisen von 1889 bis 1945." Darin ist natürlich auch nachzulesen, wie der "Führer" jenen 8. November 1939 verbrachte, an dem er beinahe ums Leben gekommen wäre.


VON ULRICH RENZ (2018)

Seine schier unglaubliche Arbeit in Archiven hat Sandner in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung" beschrieben, in dem auch der Titel erklärt wurde: Als Itinerar bezeichnet die Geschichtswissenschaft die Dokumentation einzelner Orte, an denen sich deutsche Könige auf ihrem Zug durch das Reich aufhielten. Nun geht es also um 20 000 Lebenstage am Ende des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, "von der Geburt bis zur Vernichtung der Leiche Hitlers", wie der Autor aus Coburg erläuterte, der von Beruf Informatiker ist. Nebenbei räumt er in seiner reich bebilderten Arbeit - von den 2200 Bildern wurden zwei Drittel vorher nicht veröffentlicht - mit einigen Irrtümern auf, die sich nach dem Krieg hartnäckig hielten. Etwa, dass Hitler Hamburg gemieden und sich nur selten und widerwillig in Berlin aufgehalten habe.

Sandner berichtet, dass Hitler vom 7. auf den 8. November 1939 von Berlin nach München reiste, die Nacht verbrachte er in seinem Sonderzug. In der bayerischen Hauptstadt begab er sich zunächst in das Krankenhaus in der Nussbaumstraße. In dieser 1891 eröffneten Chirurgischen Klinik, heute Teil des großen Universitäts-Klinikums, besuchte er eine hartnäckige Verehrerin: Die aus englischem Adel stammende Unity Valkyrie Mitford, die nach einem Selbstmordversuch im Spital gelandet war. Sie hatte sich mit einer Pistole in den Kopf geschossen, nachdem Großbritannien am 3. September 1939 dem Deutschen Reich den Krieg erklärt hatte. Der Schuss, abgefeuert auf einer Bank am Englischen Garten in München, war aber nicht tödlich, die Lady kam ins Krankenhaus.

Die 1914 in London geborene Unity - auch eine ihrer fünf Schwestern war eine radikale Anhängerin des Faschismus - reiste 1934 nach München, suchte und fand die Nähe Hitlers und gehörte schließlich zu seinem Umkreis, zu seiner Begleitung. Nun ließ sich der "Führer" bei seinem kurzen Besuch im Krankenhaus erklären, warum es die Ärzte nicht wagten, die im Kopf ihrer Patientin steckende Kugel zu entfernen. In der Klinik begegneten sich Hitler und seine Verehrerin wohl zum letzten Mal, denn im Dezember wurde Lady Mitford in ein Krankenhaus in der Schweiz verlegt. Schließlich lebte sie, behindert, auf der ihrem Vater gehörenden kleinen Hebrideninsel Luch Kenneth und starb Ende Mai 1948 an den Spätfolgen ihres Suizidversuchs.

Anschließend setzte Hitler sein Besuchsprogramm in München fort. Er traf sich mit Gerdy Troost und Hermann Giesler. Sie, aus Stuttgart stammend, war Architektin und die Witwe von Paul Ludwig Troost, "Erster Architekt des Dritten Reiches" und Vorgänger von Albert Speer. Er entwarf die ersten repräsentativen Bauten der Nationalsozialisten, starb aber schon 1934 im Alter von 55 Jahren. Seine Witwe, die bis 2003 lebte, wurde zu einer einflussreichen Beraterin Hitlers in Kunst- und Kulturfragen. Albert Giesler war ebenfalls Architekt und genoss das besondere Wohlwollen Hitlers. Er starb 1987 in Düsseldorf.

Das Treffen im Architektenkreis, in dem sich Hitler stets wohlfühlte, dauerte wohl ungleich länger als der Besuch im Krankenhaus. Danach fuhr der "Führer" zu seiner luxuriösen Wohnung in der Prinzregentenstraße 16, bis an das Lebensende seine Privatadresse. Um 14.00 Uhr empfing er dort den General Rudolf Schmundt. Mit diesem Chefadjutanten, so ist zu vermuten, sprach er vor allem über den bevorstehenden Feldzug gegen Frankreich, dessen Beginn zunächst auf den 12. November festgesetzt, aber dann immer wieder verschoben wurde. Dieses Hin und Her spielte auch eine wichtige Rolle beim vorzeitigen Abgang Hitlers aus dem "Bürgerbräukeller", denn es zog ihn wegen der militärischen Lage zurück nach Berlin.

Anschließend suchte Hitler eines seiner Stammlokale in München auf: Zum Mittagessen fuhr er in die "Osteria Bavaria". Der Historiker David Clay Large schreibt in seinem Buch "Hitlers München" über dieses "rustikale italienische" Restaurant in Schwabing: "Hitler frequentierte dieses Lokal schon seit seinen frühen Münchner Jahren. Er liebte es, üppige Portionen Ravioli zu vertilgen, wobei er gleichzeitig darüber klagte, dass er als ,Führer' auf seine Linie achten müsse." In der Osteria hatte er auch Unity Mitford kennengelernt. Denn nach ihrer Ankunft in München lauerte sie dem "Führer" dort buchstäblich auf, bis sie schließlich ins Gespräch kamen und eine Art Freundschaft schlossen. Nach dem Essen zog sich Hitler wieder in seine Wohnung zurück und fuhr dann fünf Minuten vor 20.00 Uhr zum "Bürgerbräukeller", wo er unter der tickenden Zeitbombe von Georg Elser im Kreise der "Alten Kämpfer" und fast der gesamten nationalsozialistischen Führung eine Rede hielt, in der er vor allem gegen Großbritannien wütete. Dann aber brach er früher als in den Jahren zuvor auf und entkam der verheerenden Explosion knapp, weil er mit seinem Sonderzug rasch nach Berlin reisen wollte.

Glaubt man dem Autor David Clay Large, dann hielt den "Führer" ohnehin nichts mehr im Kreis der Kameraden: "Ebenso wie Hitler der schrillen Unity überdrüssig wurde, entwickelte er eine wachsende Abneigung gegen die nicht enden wollende Aufdringlichkeiten der 'alten Kämpfer', die glaubten, das alleinige Anrecht auf seine Zuwendung zu haben, wann immer er sich in München aufhielt. Wie Albert Speer in seinen Erinnerungen schreibt, vermisste Hitler den 'Ton des Abstandes', den er inzwischen für angebracht hielt, und fand sie 'unangemessen vertraulich'; auch ihre außerordentliche Primitivität und Dummheit scheint ihm zunehmend angeödet zu haben."

Er verließ München jedenfalls nach einem Tag. Der Rest des Abends füllt unterdessen Geschichtsbücher. Ein sehr verwandtes und mit dem Fall Elser verwobenes Kapitel der Widerstandsgeschichte wird in dem Itinerar ebenfalls erwähnt: Der Attentatsplan der Gruppe Oster. Denn um die Zeit, als Elsers Pläne schon sehr konkret waren, machten sich auch Angehörige der militärischen Opposition gegen Hitler entsprechende Gedanken. Im Mittelpunkt stand dabei der Oberstleutnant Hans Oster, Leiter der Zentralabteilung bei der Abwehr. Er und seine Mitverschwörer wurden von der Explosion im "Bürgerbräukeller" in München völlig überrascht und rätselten über die Hintergründe dieser Tat, die für sie sehr konkrete Auswirkungen hatte. Denn nun wurden die Sicherheitsvorkehrungen so sehr verschärft, dass die Gruppe Oster nicht mehr an den für ihre Pläne benötigten Sprengstoff kommen konnte.


Ulrich Renz: Hitlers Programm am verhängnisvollen 8. November. In: Georg Elser und die Justiz. Falsches Todesdatum und andere Denkwürdigkeiten. Schriftenreihe der Georg Elser Gedenkstätte Königsbronn, Band 17, Königsbronn 2018, S. 18-20.

Ulrich Renz bei Wikipedia

Auch Hitler musste sich an den Fahrplan halten


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