Hitlers Planung der Westoffensive

Von Joachim C. Fest, Historiker


Joachim C. Fest - Quelle: dpa

Je widerstrebender die Generale sich verhielten, desto ungeduldiger drängte Hitler auf den Beginn der Westoffensive. Er hatte ursprünglich einen Zeitpunkt zwischen dem 15. und dem 20. November festgesetzt, dann jedoch den Angriffstermin auf den 12. November vorverlegt und damit die Offiziere zur Entscheidung gezwungen. Wie im September 1938 standen sie vor der Wahl, entweder einen Krieg vorzubereiten, den sie für verhängnisvoll hielten, oder aber Hitler durch einen Staatsstreich zu stürzen; und wie damals war v. Brauchitsch zu halber Unterstützung bereit, während im Hintergrund die gleichen Akteure wirkten: Oberst Oster, der inzwischen zurückgetretene Generaloberst Beck, Admiral Canaris, Carl Goerdeler, ferner der ehemalige Botschafter in Rom, Ulrich v. Hassell, und andere. Zentrum ihrer Aktivitäten war das Generalstabsquartier in Zossen, und Anfang November entschlossen sich die Verschwörer zum Staatsstreich, falls Hitler weiterhin auf seinem Angriffsbefehl bestehen sollte. v. Brauchitsch erklärte sich bereit, in einer für den 5. November anberaumten Unterredung einen letzten Versuch zu unternehmen, Hitler umzustimmen. Es war der Tag, an dem die deutschen Verbände ihre Ausgangsstellungen zum Vorstoß gegen Holland, Belgien und Luxemburg beziehen sollten.

Die Unterredung in der Berliner Reichskanzlei führte zu einem dramatischen Zusammenstoß. Scheinbar gelassen hörte Hitler sich zunächst die Bedenken an, die der Oberbefehlshaber des Heeres in einer Art "Gegendenkschrift" zusammengefasst hatte: den Hinweis auf die schlechten Witterungsverhältnisse schob er knapp mit dem Einwand beiseite, das Wetter sei auch für den Gegner schlecht, die Besorgnisse wegen des unzureichenden Ausbildungsstandes verwarf er mit dem Bemerken, daran sei auch in vier Wochen nichts zu ändern. Als v. Brauchitsch schließlich die Haltung der Truppe im Polenfeldzug kritisierte und von Disziplinlosigkeiten sprach, ergriff Hitler die erwartete Gelegenheit zu einem seiner großen Ausbrüche. Tobend, wie es in der nachträglichen Aufzeichnung Halders heißt, verlangte er Unterlagen, forderte zu wissen, bei welchen Einheiten die Vorkommnisse aufgetreten seien, was man veranlasst habe, ob Todesurteile verhängt worden seien, er werde sich unverzüglich an Ort und Stelle überzeugen, in Wirklichkeit habe nur die Armeeführung nicht kämpfen wollen und daher schon lange das Aufrüstungstempo verschleppt; er werde jetzt aber den "Geist von Zossen ausrotten". Schroff untersagte er v. Brauchitsch, seinen Bericht fortzusetzen, und fassungslos, mit bleichem Gesicht, verließ der Oberbefehlshaber die Reichskanzlei: "Br(auchitsch) ist völlig zusammengebrochen", notierte einer der Beteiligten. Am gleichen Abend bestätigte Hitler noch einmal ausdrücklich den Angriffsbefehl für den 12. November.

Obwohl damit die Bedingung für den Staatsstreich eigentlich erfüllt war, unternahmen die Verschwörer nichts; die bloße Drohung gegen den "Geist von Zossen" hatte genügt, ihre Schwäche und Entschlusslosigkeit zu offenbaren. "Alles ist zu spät und völlig verfahren", schrieb einer der Vertrauten Osters, Oberstleutnant Groscurth, in seinem Tagebuch. Mit einer verräterischen Hast verbrannte Halder alles belastende Material und brach noch zur gleichen Stunde die laufenden Vorbereitungen ab. Als Hitler drei Tage später im Münchener Bürgerbräukeller nur knapp einem Attentat entging, das offenbar das Werk eines Einzelgängers war, brachte die Furcht vor einer Großfahndung der Gestapo auch die letzten verbliebenen Staatsstreichabsichten zum Erliegen. Überdies war der Zufall den Verschwörern gewogen und befreite sie von ihrem eigenen Vorsatz; denn am 7. November musste der Angriffstermin aufgrund der ungünstigen Wetterlage verschoben werden. Allerdings räumte Hitler nur einen Aufschub von wenigen Tagen ein; wie gering seine Bereitschaft war, die von den Offizieren geforderte langfristige Terminverschiebung in Betracht zu ziehen, geht daraus hervor, dass der Vorgang sich bis Anfang Mai 1940, als der Angriff schließlich begann, insgesamt neunundzwanzig Mal wiederholte.

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In zusammengefasster Form finden sich seine geläufigsten Motive in der Ansprache vom 23. November 1939, als er die Oberbefehlshaber zum möglichst unverzüglichen Angriff gegen Westen veranlassen wollte und nach einer Analyse der Lage bemerkte:

"Als letzten Faktor muss ich in aller Bescheidenheit meine eigene Person nennen: unersetzbar. Weder eine militärische noch eine zivile Persönlichkeit könnte mich ersetzen. Die Attentatsversuche (wie der vom 8. November 1939 im Bürgerbräukeller) können sich wiederholen. Ich bin überzeugt von der Kraft meines Gehirns und von meiner Entschlusskraft. Kriege werden immer beendigt nur durch Vernichtung des Gegners. Jeder, der anders denkt, ist unverantwortlich. Die Zeit arbeitet für den Gegner. Jetzt ist ein Kräfteverhältnis, das sich für uns nicht mehr verbessern, sondern nur verschlechtern kann. Der Gegner wird nicht Frieden schließen, wenn das Kräfteverhältnis für uns ungünstig ist. Keine Kompromisse. Härte gegen sich selbst. Ich werde angreifen und nicht kapitulieren. Das Schicksal des Reiches hängt nur von mir ab. Ich werde danach handeln."

Quelle: Joachim C. Fest, Hitler - Eine Biographie, Frankfurt 1973


Joachim C. Fest gehört zu den bekanntesten Historikern und Publizisten der Bundesrepublik. Ein Großteil seiner Bücher, die fast durchweg zu Bestsellern auf dem deutschen Markt wurden, beschäftigt sich mit dem Dritten Reich und Adolf Hitler.
  • Fest wurde 1926 in Berlin-Karlshorst geboren. Sein Vater, Oberschulrat, Mitglied der katholischen Zentrumspartei und überzeugter Nazi-Gegner, wurde 1933 vom Schuldienst suspendiert.
  • Im Alter von 14 Jahren wurde Fest wegen einer Hitlerkarikatur von der Schule verwiesen. Er kam ins Internat nach Freiburg, musste dort in die Hitlerjugend eintreten. Als 15-Jähriger wurde er Flakhelfer, ab 1943 Soldat. Nach dem Krieg studierte Fest Jura, Geschichte, Soziologie, Germanistik und Kunstgeschichte.
  • Nach dem Studium war er zuerst Rundfunkredakteur beim RIAS in Berlin, bevor er 1961 zum Norddeutschen Rundfunk (NDR) nach Hamburg ging, wo er ab 1963 Chefredakteur der Abteilung Zeitgeschehen war und auch das zeitkritische Magazin "Panorama" verantwortete.
  • 1968 legte Fest eine 5-jährige Forschungspause ein, um eine neue Hitler-Biografie zu verfassen. Das Buch "Hitler. Eine Biographie." erschien 1973. Sein in zwanzig Sprachen übersetztes Werk gilt seither als eleganteste und nach wie vor gültige Lebensbeschreibung des Diktators. 1977 entstand daraus der Dokumentarfilm "Hitler. Eine Karriere.".
  • 1973 bis 1993 war Fest bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) als Mitherausgeber für das Feuilleton zuständig.
  • 1981 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität Stuttgart und den Lübecker Thomas-Mann-Preis.
  • 1996 wurde er mit dem Ludwig-Börne-Preis ausgezeichnet.
  • 1999 erschien "Speer. Eine Biographie." über den Lieblingsarchitekten und Rüstungsminister Hitler.
  • 2002 erschien "Der Untergang. Hitler und das Ende des Dritten Reichs.". Diese Dokumentation wurde später von Bernd Eichinger verfilmt.
  • 2006 erhielt er den Henri-Nannen-Preis. Im Alter von 79 Jahren starb der Historiker am 11.9.2006 in Kronberg im Taunus, kurz nachdem er seine Autobiografie "Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend." fertiggestellt hatte.

Die obigen Auszüge aus Fests Hitler-Biografie verdeutlichen, womit sich der Diktator im November 1939 beschäftigte und dass schon lange vor dem 20. Juli 1944 im deutschen Militär eine Opposition existierte, die sich mit - immer wieder vertagten - Staatsstreichplänen trug.

Aus heutiger Sicht ist es verblüffend, dass der Name "Georg Elser" in dieser 1973 erschienenen - immerhin 1438 Seiten starken - Hitler-Biografie weder im Personenregister, noch sonst irgendwo im Text auftaucht. Der obige fett hervorgehobene Nebensatz über das "Attentat, das offenbar das Werk eines Einzelgängers war," ist alles, was dieser renommierte Autor hierzu zu sagen hat. Kein Wort über die Person des Widerstandskämpfers, seine Beweggründe und seine erstaunliche Tatausführung.

Dies ist symptomatisch für die damalige Zeit, in der Elser lediglich als exotische Randfigur im Widerstand gegen das Hitlerregime betrachtet wurde. Zum Vergleich: Die 2003 erschienene Hitler-Biographie von Ralf Georg Reuth sowie die bereits 1976 erschienene Hitler-Biographie des Amerikaners John Toland. Noch ausführlicher geht Ian Kershaw in seiner Hitlerbiografie im Jahr 2000 auf Georg Elser ein.